Die Malerei stellt sich der Fortpflanzung

 

Zwanzig Selbstporträts von Corinne Chambard

 

Die Fortpflanzung ist ein höchst lebendiger Vorgang, bei dem sich eine Zelle in einem „mitotischen“ Prozess verdoppelt. Wenn es sich allerdings um einen mehrzelligen und zur Sexualität fähigen Organismus handelt, besteht die Fortpflanzung darin, einen Teil seines genetischen Erbes mit dem eines anderen Organismus auszutauschen und neu zu kombinieren, wobei ein drittes Lebewesen entsteht. So ist sogar aus einer vereinfachten biologischen Sichtweise die Fortpflanzung ein zweideutiger Vorgang. Sie führt sowohl zur „natürlichen“ Klonierung einer Zelle, die sich so wieder findet, wie sie ist, und trotzdem jünger ist als sie selbst. Die Fortpflanzung kann auch zur Erschaffung von Neuem gezählt werden, und zwar dann, wenn die Kombination der Hälfte des Genoms eines Männchens und die Hälfte des Genoms eines Weibchens zur Geburt eines Wesens führt, das weder der jüngere Doppelgänger des Vaters oder der Mutter noch die Summe von Vater und Mutter ist, sondern ein neues Individuum, das sowohl dem Vater als auch der Mutter ähnlich ist und gleichzeitig auch Eigenschaften besitzt, die es nur vom Vater und andere, die es nur von der Mutter hat, obwohl es eigene Eigenschaften besitzt und entwickelt. So werden die Mitochondrien unserer Zellen, in denen die Atmungskette es ermöglicht Energie in Form von ATP- (Adenosintriphosphat) Molekülen herzustellen, von den Zellen der Mutter genetisch determiniert und damit bestimmt.

 

Die Zweideutigkeit bei der Fortpflanzung ist aber noch stärker, früher hätte man sie als ontologisch bezeichnet, denn auch die Reproduktion von „ Identischem “ enthält genauso Variationen, wie die Erscheinung von Neuem einen Bezug zur Einheit vom schon Existierenden aufweist. Die Fortpflanzung ist selbstverständlich nicht die Duplikation von DNA-Molekülen. Trotzdem hat die sich verdoppelnde Zelle zuerst einen Prozess durchlaufen, bei dem sich die DNA „im Prinzip“ identisch verdoppelt hat. In der Praxis weiß man, dass dabei Variationen, Verschiebungen von Basenreihenfolgen (Adenosin, Thymin, Guanin, Cytosin), Inversionen von Basen oder sogar von längeren genetischen Sequenzen, Übergänge von einer Base von einem DNA-Strang zu einem anderen usw. vorkommen. Die einzige Beschränkung für all diese Mutationen ist die Sterblichkeit des Embryos oder des neuen Individuums, sobald es geboren ist. All diese Variationen sind jedoch kein Verhängnis und sie bilden auch die genetische Grundlage für die Plastizität dieser Art „Zufälligkeit der Materie“, das Epikur in der Physik als „klinamen“ bezeichnete, die minimale, zufällige und spontane Abweichung beim Fall des Atoms ins Leere, ohne die es nach Epikur keine Welten und nach der Biologie keine Evolution gäbe. Mutationen und damit die Organismen, in denen sie sich abspielen, werden nur dann eliminiert, wenn diese nicht überleben oder wenn sie es wegen ihrer Mutation nicht schaffen, sich fortzupflanzen. Wie dem auch sei, das Klonen einer Zelle ist also nicht die strenge Kopie einer Zelle durch eine andere. Entsprechend ist die Geburt eines neuen mehrzelligen Wesens nicht die Erschaffung eines völlig neuen Wesens aus dem Nichts - wie eine Art biologischer Urknall, der eine reine Erschaffung ex nihilo wäre. Das „Erschaffene“ enthält die Hälfte der genetischen Informationen, über die die Zellen seines Vaters, und die Hälfte derer, über die die Zellen seiner Mutter verfügten. Die Erschaffung von Neuem ist nicht ohne eine enge genetische, morphologische, familiäre und Identitätsbeziehung denkbar, in mancher Hinsicht sogar von fast reiner Identität zwischen den zwei Wesen, die sich zusammengeschlossen haben, um es hervorzubringen.

 

Die Reproduktion der gleichen Gestalt in der Serie Identities (Identitäten, 20 x 70x55 cm, Öl auf Leinwand, 2004) zeigt zwanzig Mal das gleiche Gesicht, das den Betrachter direkt mit seinen großen braunen Augen ansieht. Zwanzig Mal erscheint der gleiche, kaum als weiblich erkennbare Oberkörper der Malerin selber, mit verschiedenen europäischen Uniformen der napoleonischen Zeit - in Deutschland die Befreiungskriege - bekleidet. Diese neue Reihe von Selbstporträts (19 weitere sind zwischen 2002 und 2003 im Format 150x110 cm entstanden) wird in ihrer Gesamtheit von der ontologischen Zweideutigkeit der Fortpflanzung im biologischen Sinn durchzogen. Gleich wie identisch auch immer die Identität ist, sie enthält den Unterschied, genauso wie die vorige Reihe Bei uns, Chez nous (20 x 120x90 cm, 2002/2003), auf die sich heute Identities bezieht und mit der sie zusammen eine beachtliche Menge von vierzig Gemälden bildet, und die zwanzig verschiedene Haltungen von Beinen und gestiefelten Füßen männlicher europäischer Soldaten zeigt, welche dennoch die Zugehörigkeit zu einer Geschichte, zu einem geteilten „Wir“ gemeinsam haben. Identities ist die trotz ihrer selbst durch den Unterschied gelebte und verarbeitete Identität. Bei uns ist der von der Identität einer Geschichte und einer geteilten und teilbaren Gemeinschaft bewohnte Unterschied. Der namenlose Zusammenklang dieser beiden Mengen findet in einer doppelt dialektischen, ausgewogenen, aber nicht symmetrischen Bewegung statt, in der sie bis zur Unendlichkeit wie zwei gleichzeitige und gleich starke Anforderungen oder wie zwei sich gegenüber stehende Spiegel eine neue Struktur bilden, die über die zwei ursprünglichen hinausgeht, und dabei einen doppelten polyphonen und ständig fliehenden Widerhall erschaffen, der einerseits aus der vom Unterschied bestimmten Identität im von der Identität bestimmten Unterschied und andererseits aus dem von der Identität bestimmten Unterschied in der vom Unterschied bestimmten Identität stammt.

 

Bewegt man sich nur auf der Ebene der Untergruppe Identities, so kann sich die Identität der gleichen, zwanzig Mal von der Hand der Künstlerin wiederholten Figur nur gegenüber der spontanen Variation der Materie erschließen, trotz der in der Intention und in der plastischen Ausführung effektiven Porträts, welche die durch die verschiedenen europäischen Uniformen (mit ihren gleichzeitig unterschiedlichen und typischen Farben) verdeutlichten Nationalitätsunterschiede nur noch als Krönung unterstreichen. Die Unterschiede zwischen einem Selbstporträt und dem anderen sind keine Konstrukte oder Artefakte. Noch weniger sind sie Widersprüche oder Schwächen. Und man täte noch schlechter daran, sie als bedauerliche „genetische Fehler“ einzuordnen. Sie sind so notwendig und tief gehend wie die Variationen zwischen zwei „identischen“ DNA-Molekülen, die gleich wie stabil sie sind, eine zu variable und komplexe Molekülstruktur besitzen, um perfekt duplizierbar zu sein. So wie das Leben selbst, dort wo es sich vornimmt sich identisch zu wiederholen, unternimmt es die Malerei, hier und jetzt auf die falsche und tote oder gänzlich identische Wiederholung zu antworten, von der uns die Industrie und die Informatik heute einen quantitativ nicht zu leugnenden Eindruck geben, der in dieser Form bereits von Marx und Chaplin vorausgeahnt und kritisiert wurde. Das gemalte und nicht wie bei Andy Warhol mechanisch vervielfältigte Reproduktionsexemplar steht für eine Identitätsprobe, die von genauso viel Variation geprägt wird, wie das Leben trotz seiner Wiederholungen im Prinzip enthält. Die Malerei entflieht dem Leben insofern nicht, als sie nicht nur mit der Hand, mit dem Pinsel oder dem Talent des Malers verbunden, sondern tiefer mit dem „lebendigen Hauch“ des Vorgangs verknüpft ist, der sich in ihrer Bewegung abspielt. Die lebendige Malerei kann nicht mehr tun als das Leben. Dort, wo die Zwillinge, gleich wie „echt“, wie nah und ähnlich sie sich in den kleinsten Details sein mögen, zwei Wesen bleiben, deren Identität und mehr noch deren Verschmelzung nicht der mathematischen Gleichheit entspricht, kann die Malerei, die sich selbst einen Teil dieser Herstellung völliger Gleichheit auferlegt, wie die Maschine sie in großer Zahl erzeugt, nur eine Identität herstellen, die für den Unterschied offen ist. Das Leben ohne Unterschied wäre kein Leben mehr. Die Malerei der Identität kann es nicht vermeiden, Unterschiede herzustellen, gleich wie mechanisierend, industriell, seriell oder automatisch sie werden kann oder sich vornimmt zu werden. Es ist eine Definitionsfrage. Es ist eine Bedingung, die der Kunst und dem Leben selber innewohnt. Die einzige Möglichkeit diesen Stand der Dinge zu ändern, wäre, die Bewegung, die Hand und den Pinsel zu vernichten, den Maler zu vernichten, das Menschliche zu vernichten und dadurch auch den Atem, diesen „Lebenshauch“, der der Malerei selbst entspricht.

Unter Vorgabe, die Frage der europäischen Identität durch eine Erfahrung mit der Identität des Malers, der metaphorisch geklonten Malerin zu stellen, die gerade jetzt, wo so etwas wie eine europäische Identität versucht, Selbstbewusstsein zu erlangen, zwanzig verschiedene nationale Identitäten verkörpert, stellt Identities eine Reflexion über die Identität der Malerei an und fragt nach den Grenzen der Malerei. Bis zu welchen Gipfeln, bis in welche Wüsten, bis in welche Tiefen und Abgründe hinein kann die Malerei atmen? Die Antwort ist folgende: Die „Fließbänder“, die Labore, in denen das industrielle Klonen stattfindet, das die Natur in jedem Fall und in großem Maßstab sowohl auf bakterieller wie auf pflanzlicher und tierischer Ebene herstellt, die Methoden kontrollierter Verbreitung durch Kettenreaktion der einen oder anderen Sequenz genetischer Information eines wie immer gearteten Lebewesens, die in Teilen mögliche Kontrolle der DNA-Replikation und der Fortpflanzung von Organismen (von der Bakterienzelle bis zum Homo sapiens), die Neumodellierung durch Genmanipulation der Identität aller Lebewesen, die uns unter die Pipetten kommen usw. bezeichnen und eröffnen neue Felder technischer Forschung, auf denen inzwischen stolz die Flagge der Malerei weht. Wir befinden uns gegenüber einem Werk, das „zur Zeit der technischen Reproduzierbarkeit“ sich eher von den Bedürfnissen des Lebens bewohnen lässt als von denen des biotechnologischen Wesens, der identischen Reproduktion, der Stabilität, der höchsten Kontrolle aller aus dem Selbst abgeleiteten Dinge, des Erhalts und der Durchsetzung nicht nur einer bestimmten Identität der Malerei, sondern auch ihrer gesamten „Aura“, um es mit einem Ausdruck des Malers Koyo Hara zu sagen. Aber noch einmal: Es wäre ein Fehler, zu glauben, dass eine so mächtige Selbstbehauptung der Malerei und des Malers und solche Ansprüche nicht die Offenheit für eine diametral entgegen gesetzte Logik enthalten, die kommen wird und alle Hirngespinste der Nicht-Selbstentfremdung ausgleichen muss, welche fälschlicherweise nur unzureichendes Nachdenken über die Malerei und das Leben hervorbringen kann.

 

Diese Harmonie der Malerei und des Lebens steht dennoch nicht im Widerspruch zu der Erwartung und Ankündigung Walter Benjamins. Er prognostizierte eine Veränderung der Welt durch die technischen Entwicklungen und die Ersetzung der religiösen Kunst durch eine politischere, schneller reproduzierbarere Kunst, die er exemplarisch in der Fotografie sah. Was er jedoch nicht vorhersah, ist, dass der Machtgewinn dessen, was er als „Ausstellungswert“ bezeichnete, was den „Kultwert“ des einzigartigen Kunstwerkes, der den alten „Wundern“ angehört, verdrängen müsse, ebenso gut in der blutlosen Durchsetzung eines Identischen aufgehen könnte und kann. Dieses Identische wird in dem Film Moderne Zeiten gezeigt, und zwar nicht als die lebendige (offene) Identität, sondern als das entfremdete und entfremdende Produkt einer toten oder variationslosen Reproduzierbarkeit in Reinform. Die wirkliche Veränderung der Welt verändert sich selbst ohne Veränderung, wie auch das Leben sich seit dem frühesten Morgenrot selbst verändert ohne aufzuhören es selbst zu sein. Die Veränderung ist ein uralter Fluss. Sie ist heutzutage durch die Mutation dieser Malerei verursacht, welche wie das Leben in den Laboratorien „sich selbst physisch verändert“. Die Veränderung ohne Veränderung, die Erneuerung des Gleichen, welches sich per definitionem dem Neuen öffnet, wohnt der aktiven Einverleibung inne, wohl überlegt, fleischlich, immer feiner und anspruchsvoller, unabhängig vom Menschen, bevor sie zur Technik wird und von der Reproduktion, solange sie nicht die Reproduzierbarkeit ist. Einerseits wird die Permanenz der zweideutigen lebendigen Identität der Reproduktion im biologischen Sinne nicht von den technischen Manipulationen des Lebenden verändert, die aber dennoch die Erde und das Leben erneuern werden. Andrerseits wird der Perfektionsanspruch in Identities, der die Identität der Darstellung betrifft – die Darstellung dessen, was dargestellt wird und dieser wiedergeborenen Macht, die sich selbst in der Malerei deklariert - durch diese Veränderung vor Ort inspiriert und belebt, die nichts anderes ist als die Veränderung des Lebendigen selbst. Die Identität, die in Identities angestrebt wird, ist das Ergebnis der Reproduktion in ihrer ganzen uralten Zweideutigkeit. Obwohl notwendiger Weise Manipulationen am Menschen verboten sind, die seine Reproduktion „auf Bestellung“ ermöglichen könnten, sind zwei Klone niemals zwei mathematisch identische Wesen - ebenso wie auf einer anderen Ebene zwei DNA-Moleküle, die sich gerade verdoppelt haben und wie die 20 Selbstporträts, die uns hier beschäftigen. Identities entfaltet das zweideutige Programm einer Lebendigen Malerei, die ihren Anforderungen an die Präzision und an die Schönheit der alten Meister treu bleibt, sich aber gleichzeitig wandelt und ihren Rahmen sprengt. Ebenso wie sich heutzutage in uns selbst die „zweieinige“ Stabilität und Plastizität des Lebendigen weiterentwickelt, ohne sich dabei jedoch zu verändern.

 

 

Laurent Cherlonneix, Paris, Dezember 2004

 

Übersetzung: Cornelia Feuerbach & Maria-Grazia Martino.