Geburt eines Stils

 

"Bei uns" ("chez nous") Zwanzig Leinwände über zwanzig Länder Europas von Corinne Chambard

 

Vier Ebenen unterteilen diese Serie. Die historische oder geopolitische Ebene, die Ebene der Männlichkeit im Verhältnis zur Weiblichkeit der Malerin, die biologische Ebene der lebendigen Natur der gezeigten Körper und schließlich - dies, ohne dem von Grösse nicht die Rede sein könnte - die ästhetische Ebene, der erzeugte Diskurs uber die Art des Malens und allgemeiner uber die Kunst. In diesem Sinne verkörpern diese Leinwände die Geburt eines Stils.

 

Fangen wir mit dem Einfacheren an. "Bei uns" zeigt zwanzig Länder Europas verkörpert durch zwanzig Soldaten, von denen lediglich die unteren körperlichen Extremitäten zu sehen sind : die Taille, der Schritt, die Beine und die Füße, nicht zu vergessen die Hand, die manchmal eine Waffe - Messer, Säbel, Schwert, Gewehr - hält oder berührt. Bis auf drei Ausnahmen wie die Schweiz, Dänemark und Schweden, ruhen diese Waffen. Sollte darin die gleichsam bewaffnete aber nicht kriegerische, paradoxe Bejahung von einem Pazifismus gesehen werden, der die Konsequenz einer uns bekannten europäischen Geschichte ist ? Sollte man darin den Wunsch sehen, daß es eine solche pazifistische Bestimmung gibt, um andere weniger pazifistische auszugleichen ? Eine schnelle Betrachtung erlaubt uberdies festzustellen, da ß es sich hierbei nicht um die zwanzig Länder der heutigen europäischen Union handelt (die Schweiz und Norwegen, die der EU nicht angehören, sind dargestellt), nicht mal um die Gruppe der siebenundzwanzig zukünftigen Mitglieder der EU, sondern um einen Weg, eine künstlerische Wahl. Aus diesem Blickpunkt heraus beinhaltet das "Bei uns" keinen Bruch zwischen den Mitgliedern eines Clubs und denjenigen, die nicht dazu gehören, es lädt zum Vergleich ein. Wie könnte die sorgfaltig ausgesuchte Haltung dieser zwanzig europäischen Soldaten es verfehlen, eine Bedeutung in einem europaischen, letztlich außer-europäischen Blickfeld zu haben ? Die Identität, ungeachtet auf welcher Ebene sie angesprochen wird, ist eine unerschöpfliche Frage, eine gerechte Frage: sie lädt einen dazu ein, uber die Differenzen zu reflektieren, um neue Möglichkeiten zu eröffnen. Differenzen der Nationalitäten sind bei den Uniformen der zwanzig Soldaten in einer Epoche - zu Anfang des 19. Jahrhunderts - festgelegt worden, in der die Farben und die Einzelheiten der militärischen Bekleidung sie stark von einander unterschied. Die europäische Identitat wird infolge dessen die Identität jener eigenartigen Mannschaft, zusammengestellt aus der fein abgestimmten Aneinanderreihung von diesen verschiedenen Burschen innerhalb der heutigen Welt. Aber von welchen Unterschieden reden wir ? Der Weg allein von England über Irland bis Portugal, vorbei an Griechenland dann durch Polen steigend bis nach Finnland, dieser Weg drückt genauso Unterschiede aus wie die geographischen oder historischen Zeichen eines gemeinsamen Schicksals. Man wird vielleicht sagen, daß der Maler andere Routen und andere Nachbarschaften hätte aussuchen können. Gewiß. Die Wahl ist ein Lesen: Genau das ist einer der Vorsätze von "Bei uns", den Betrachter einzuladen, nicht nur über den Verlauf und die festgelegten Nachbarschaften nachzudenken, sondern auch die Lust zu erwecken, in Europa zu Hause zu sein, mit der nötigen Neugier für die unterschiedlichen Familien - mit ihren Sehnsüchten, ihren Geschichten und ihrer Geschichte - um dann in der Lage zu sein, seinen eigenen Parcours, seinen eigenen Spaziergang vorzuschlagen. Dies soll allerdings nicht vergessen lassen, daß die in dieser Serie enthaltenen Entscheidungen nicht nur auf dem Wissen beruhen, wer ist neben wem, sondern auf der Art der genauen Haltung des Körpers und der jeweiligen "Nachbarn" zueinander. Warum schaut England woanders hin, zum Meer und nicht zu Irland oder zum Osten? Ist dieser Deich, durch einen Strich hinter den Niederlanden auf dem Meer skizziert, eine äußerliche oder eine nur geographische Eigenschaft dieses Landes ? Was hält Belgien davon und was sagt es im allgemeinen zu den Niederlanden ? Warum stellt sich Frankreich frontal, breit gebaut und beweglich zugleich, bewaffnet aber auch tanzend dar ? Was erzählt Frankreich Portugal ? Warum brüstet sich Spanien in einer so steifen, brutal farbigen Haltung, die sie von der graziösen Haltung Italiens auf jeden Fall unterscheidet ? Aber was denkt Italien davon ? Welches Gesprach führen Ungarn und Österreich und in welchem Ton ? Was sagt, oder was versucht Deutschland der Schweiz zu sagen, die den Rücken dreht ? Hört sie überhaupt zu ? Warum hält sich Polen so keck neben der schüchterneren Tschechei ? Was bedeutet die griesgramige, wenn nicht sogar drohende Pose von Dänemark neben Norwegen, und wem dreht Norwegen den Rücken zu? Was bedeutet schließlich die Pose Schwedens, dessen Aufmerksamkeit den beiden zu gleichen Teilen, Norwegen wie Finnland, gilt ? Welcher Art sind die Geschichten, die all diese eigenartigen Gestalten miteinander verbinden ? Und vor allem: Was haben Sie sich jetzt zu sagen und was Neues zu tun ? Sind wir die Kinder dieser natürlichen Existenz, wovon Hegel spricht, um das biologische Überleben der Völker zu bezeichnen, wenn sie von dem lebendigen Atem der Geschichte verlassen worden sind ? Oder sind wir im Gegenteil dabei, neue Möglichkeiten, unbekannte historische Konfigurationen zu erfinden, die sich keine Vergangenheit wirklich vorstellen könnte ?

 

Aber die Waffen, die von diesen mehr oder minder maskulinen - mehr oder minder femininen - Männern getragen werden, dienen nicht nur dazu, das zukünftige Buch der Geschichten Europas zu öffnen, sei es noch so spannend. Die Waffen, die die meisten dieser Männer machtig schmücken, stellen oft ein Phallussymbol dar, obwohl die Malerin auch weiblichere Geschlechter in V-Form zu erahnen gibt. Aber in Spanien, in Griechenland, in Ungarn, in Polen, in Schweden und in Finnland begleitet und verlängert die Waffe zweifellos die Virilitätsorgane. In Schweden zum Beispiel, wo zu bemerken ist, daß das Gewehr aufrecht steht. Desgleichen in Dänemark. Solche Erektionen von Gewehren ermöglichen es nicht nur, die Versuchung einer kriegerischen Leseweise dieser Serie zu überschreiten, sie zelebrieren die Männlichkeit dieser sowohl gut bewaffneten wie gut bestückten Männer (siehe Spanien), manchmal zweideutiger (die Schweiz und Norwegen), passiver (Belgien, Griechenland, Deutschland, im übrigen sehr standhaft, die Tschechei und Finnland), manchmal verführerischer und weiblicher (so Irland oder Italien, aber auch Frankreich und Österreich). Fügen wir hinzu, daß eine Frau diese Männer malt. Eine Frau, deren Œuvre im übrigen oft damit beschäftigt war, Selbstportraits in militärischen Uniformen zu produzieren ("I am You ", "Selbstportrait als Bismarck" oder "Kaiser Wilhelm I."), ohne andererseits darauf zu verzichten, erotischere Vorschläge zu unterbreiten, wie in "Neue Heimat", wo sich die junge Frau zweimal, eine Wurst zärtlich im Mund haltend, dargestellt hat. Es handelt sich also um eine Frau, die sich als Frau den Attributen des männlichen Geschlechtes stellt : die Macht, die Zurschaustellung der Macht, ihre typisch mannliche Äußerung, genauestens unterstrichen durch das Vorhandensein von Säbel oder Gewehr, entgegengesetzt zu der ursprünglichen Innigkeit des weiblichen Grundwesens. Was kann also diese junge Frau, gerade zu einer Zeit, wo die Frau immer mehr Macht erringt, dazu bewegen, zwanzigfach eine solche AIlgegenwart, eine solche Explosion der Männlichkeit zu zelebrieren ? Vielleicht diese neue weibliche Gewißheit, daß die perfekte Beherrschung der Machtwaffen genau so wenig irgendwelche Kastration der Männer wie den Verzicht auf die Privilegien und die Vorteile der Weiblichkeit nach sich zieht. Erst wenn die Frau gänzlich - das heißt de facto - auf dem gleichen Niveau von Machtgenuß wie der Mann steht, dann kann sie sich erlauben, ihn aufzuwerten. Ohne das Bedürfnis, das Männliche zu kritisieren oder zu bekämpfen, überläßt die Malerin diese Art von Feminismus klar seinen eigenen Grenzen.

 

Die dritte und vierte Ebene können nicht getrennt werden. Daß diese Soldaten etwas vom Leben zeigen, und daß sich bei dieser Gelegenheit ein neuer Malstil durchsetzt, dies bedeutet absolut das Gleiche. Die Art des Malens ist die Wirklichkeit, die diese Malerei kennzeichnet und im gleichen Zug verkörpert. Nehmen wir den Fall Schweden. Der Pinsel, der die schwarzen Stiefel darstellt, hat systematisch in der Mitte des Beines aufgehört, läßt dadurch vom Fuß bis zum Knie einen weißen senkrechten Strich erscheinen, der nicht nur das Licht reflektiert. Ungeachtet des schwarzen Stiefels, der doch geschlossen ist, sehen wir die Kniescheibe, das Schienbein, die Knochen des Fußes, und dann und wann sogar die Muskel der Beine, wie im Falle Finnlands und Norwegens. Der Soldat aus Schweden ist ein lebendiges Wesen, nicht durch seine Uniform oder seine Poseim Zustand höchster Wachsamkeit - , die er annimmt, sondern weil sein Körper offensichtlich derjenige eines Zweibeiners mit Skelett und Muskeln ist. Es ist an der Zeit, die Reichweite der Radikalität dieser bildnerischen Entdeckung und deren ästhetische und philosophische Konsequenzen zu ermessen.

 

Erstens, das Volle, das Motiv (zum Beispiel das Bein oder der Fuß) haben keine Bedeutung mehr (nicht mehr, nicht weniger) als das Leere, in diesem Fall das Nichtvorhandensein des Motivs. Das Nichtvorhandensein des Gestus erlaubt es, den Stiefel nicht zu schließen. Dieser bleibt unvollkommen und unvollendet. Das Leere ist zumindest auf zwei Weisen vorhanden: durch den weißen Grund, der das Blau vom Meer oder vom Regenwasser übertont, und durch das Aufhalten des Gestus, den wir gerade beschrieben haben. Ähnliches stimmt für England, Irland, Italien, Rumänien, Ungarn, Tschechei und Polen. Die Schlußfolgerung: genauso wie die Biologie uns heute sagt, daß ein Organismus am Leben sei, weil er ständig sein eigenes Programm zur Selbstzerstörung von Zellen zügele, ständig an der Grenze von Leben und Tod innerhalb des Lebens selbst, genauso führt die Malerin im vollen Recht die Abwesenheit, das Leere im Laufe seines Motivs ein. Genauso wie die Apoptose den Korper fortlaufend formt, indem es zum Beispiel drei Wochen lang unsere Knochenzellen zersetzt (Auflösungsphase), um sie dann wieder aufzubauen und ihnen während dreier Monate wieder Form zu geben (Bildungsphase), genauso hat der Gestus des Malers im Laufe der Gestaltung aufgehört, um ein Nichtvorhandensein offen zu halten. Dies ist die gleiche Klaffung, die das 20. Jahrhundert nicht aufgehört hat zu beziffern. Der traditionelle chinesische Maler stellt ebenfalls den Berg voller Leere dar, und so besteht hier das Dargestellte aus dem Raum, den es in sich selbst sein läßt, und der dieses Dargestellte bearbeitet und strukturiert.

 

Dennoch und zweitens, das Volle, das diese Leere enthält, - die das unvollendete Bein darstellt - ist nicht die Leere. Das Volle erlaubt in sich das Vorhandensein der Letzteren, aber identifiziert sich nicht mit ihr. Das Volle ist die Nicht-Leere, und das ist wohl ein Motiv, ein Bein oder ein Fuß, das wir weiterhin sehen - nicht eine Abstraktion oder ein reines Nichts. Obwohl sehr vom Letzteren bearbeitet, bleibt die Form auf perfekte Weise erkennbar, sie gehört der Welt. Und die Leere in ihr, als Abwesenheit, zeichnet sich ab. Diese Wahl schließt die Einseitigkeit der Grundsätze der analytischen Schule von Malewitsch aus bis zu all seinen Nachfolgern. Die Darstellung eines weltlichen Gegenstandes, sei es so voll Leere, überholt die nihilistischen und dekonstruktivistischen Methoden, um der Bejahung und dem Aufbau, sogar dem Wiederaufbau eines Motivs, das jeder Betrachter sofort wieder erkennt, den Vorzug zu geben: eine männliche Gestalt in Uniform. Das ist nicht die geringere Starke dieser Malerei, die Möglichkeit der Bindung zwischen dem Mann auf der Straße und der zeitgenossischen Kunst, die man als entkraftet bezeichnet hat, neu zu schaffen. Allerdings sieht man über die bereits erwähnte Allgegenwart des nicht bemalten weißen Hintergrunds (lediglich grundiert und vorbereitet) hinaus nur eine Hälfte eines Soldaten. Diskrete Erinnerung an eine gewisse Sparsamkeit der Mittel, wie bei arte povera und supports-surfaces, denen diese Malerei sich heute mit einer Antwort widmet.

 

Schließlich und drittens: die Form, die voller Leere ist und ihr jedoch nicht ähnelt, läßt eine Leere zu, die gleichzeitig völlige Leere ist, aber sich nicht in diesem Auseinanderklaffen erschöpft - in diesem Anhalten des Gestus. Über das Halten des Pinsels hinaus gibt es also das Weiß. Die entstandene Leere mitten im Motiv erlaubt in sich selbst eine weiße Struktur, nämlich Knochen, ein Skelett, sogar Fleisch und Muskel. Man könnte es sich nicht nehmen lassen, dieser Malerei zuzugestehen, daß sie die Leere völlig integriert hat. Genauso wie man ihr einen irgendwie gearteten westlichen, latenten Ethnozentrismus nicht vorwerfen könnte. Selbst wenn das Unsichtbare zu sehen geboten wird, zuerst als Nichtvorhandensein des Motivs, dann als seine Struktur angedeutet, wird die Radikalität des Leeren oder des Verschwindens dennoch gänzlich übernommen. Schließlich ist der von der Leere gefüllte Berg der chinesischen Malerei in keiner radikaleren Weise leer. Ihre Leere, das weiße Papier deutet das an. Sie ist nicht unstofflich, immateriell. Das Aufhalten des Gestus ist nicht weniger radikal als jene Leere. Gemeinsam haben diese Serie und der Berg der chinesischen Malerei den stofflichen Träger, unstrittig ebenfalls in beiden Fallen die Leere oder das Nichtvorhandensein des Vollen. Worin liegt also der Unterschied, wird man vielleicht fragen ? Der Unterschied liegt darin, daß Corinne Chambard sich nicht damit begnügt hat, das Nichts anzudeuten. Dadurch hat sie eine Synthese der analytischen Abläufe geschaffen, die sich durch die Leere haben bearbeiten lassen, um dann einen Boden oder eine Einfachheit wiederzufinden, und so hat sie auch eine figurativere und erreichbarere Malerei geschaffen. Es ist die Geburtsurkunde eines neuen Bilderstils, der die orientalische Fähigkeit, das Leere zu enthalten, vom Okzident her integriert, und dies gerade zu einer Zeit, wo die Biologie uns lehrt, daß Leben gleichzeitig bedeutet, unsere Fähigkeit, Leere zu schaffen, unaufhaltsam zu zügeln und auch zu nutzen. Daß es Leben ist, durch einen ständigen und feinen, molekularen Gebrauch von Kräften, die ihn zerstören, unseren Organismus zu bildhauern.

 

Zwei letzte Schlußfolgerungen sind zu vermerken: Trotz der scheinbaren Erreichbarkeit hat diese Malerei eine Beziehung zur Wahrheit. Muß man darin Spuren der Anwesenheit von Corinne Chambard in Deutschland sehen, philosophischen Boden, verzaubert von Nietzsches' "Wille zur Wahrheit" ? Auf jeden Fall ist der Nachweis gelungen, daß eine Kunst, die ebenfalls bei einem Privatmann hängen könnte, die Wahrheit, die Struktur, das Skelett entdecken lassen kann, das heißt das, was sich unter der sichtbaren Form befindet und nur durch die schonungslose Analyse hervor gebracht werden kann. Aber dieser "Wille zur Wahrheit" sagt nicht alles, und der Genuß nicht weniger als das Fleisch (die Hände) und die Kostüme, kurz gefaßt die sichtbarsten Formen des Lebens haben genug Kraft, um die erste Ebene wieder zu erobern. Die Analyse zerstört sich nicht selbst. Die Kunst ist nicht durch Tiefe oberflächlich, sie ist in sich tiefsinnig und angenehm, analytisch und kräftig, leer und voll, östlich und westlich, männlich und weiblich.Warum ? Weil sie selbst etwas von der Wirklichkeit ist, und es keinen Grund gibt, sie ins abseits zu stellen. Eine solche Kunst hat um so weniger Probleme damit, ihre Eigenartigkeit zu behaupten, da sie in Einigkeit mit der Welt existiert. Die Freude und die Macht des Artefakts sowie des Stils stammen aus der Wirklichkeit, sind vielleicht sogar ihr bezeichnendster Ausdruck. Warum sollte der Künstler den Fata Morganen des Hyper-Realismus nachgeben, wenn die Einzigartigkeit seines Werkes, mit all dem Abstrakten und Analytischen, ein privilegierter Ausdruck der Wirklichkeit selbst ist ?

 

Dr. Laurent Cherlonneix Berlin, im April 2003