DIE GEBURT EINER EUROPÄISCHEN MALEREI
Jenseits der Avantgarde. Diese Malerei muß nicht erst das was war überwinden, um eine Zukunft zu entdecken. Hier gilt nicht mehr die alte Antinomie von Gegenwart und Klassik. Ihre Präsenz deklarierend, im eigentlichen sowie im zeitlichen Sinne, brauchen diese Bilder keinen Anti-Klassizismus. Das “Selbstbildnis als Bismarck” [1] von Corinne Chambard, die ihr Studium in Paris, Marseille und Berlin absolviert hat, knüpft nicht an einen Neo-Akademismus an. In einem Bild aus der Serie “französische Liebe” [2], hat sich die junge Malerin eine preußische Uniform angezogen und als Soldat dargestellt. Im Vordergrund befindet sich eine Erdbeertorte. Die Perspektive des weißen Weges auf unbemaltem Grund eröffnet einen abstrakten Raum, der die Tiefe eines virtuellen Raumes ähnlich dem eines Bildschirms bekommt. Das Bild zeigt mit Nachdruck die weiße Malerei, die das unbemalte Gewebe bedeckt. Der weißer Weg führt den Blick zum zentralen Motiv: das Selbstbildnis, das nun in die Augen des Betrachters eindringen kann. Der Weg erklärt das, was gemäß einigen Werken aus den 70er Jahren in der Malerei unauflösbar ist: “Ich bin diese Substanz, die die Oberfläche bedeckt”. Eine weitere Arbeit aus “französische Liebe” [3] benutzt das selbe Weiß auf unbemaltem Grund, um den oberen Teil des Körpers der jungen Frau anzudeuten, die mit der rechten Hand eine Wurst verschlingen will, während sie in der linken Hand zusammen-gekrümmt einen rot bemalten Blaskuchen (eine sog. “Religieuse au chocolat”) hält. Ursprünglich beinhaltet die Entwicklung dieser Malerei die Dimension des “weißen Quadrats auf weißem Grund”, die Reduktion des malerischen Raumes auf seine ursprünglichen Elemente, wie zu Zeiten von Support-Surface und Arte povera. Jenseits der Abstraktion, jenseits des Hyper-Realismus, gibt es diesen abstrakten Realismus.
Das Stilleben ist somit reaktualisiert. Die Würste aus “made in Germany” [4], die Serie der Objekte in den Bildern “unter dem Tisch” [5] und “vanités”, die Föhne [6], die zahlreichen Zeichnungen und Gemälde in den Serien “Fragility of life” [7], “Partnerschaft” [8], “das Leben der Objekte und andere Geschichten” [9], “Maschinen und organische Körper” [10] greifen alle nachdrücklich dieses alte Thema auf. Aber warum diese Erneuerung? Warum Würste, Torten, Religieuses au chocolat, Bürogeräte wie Telefon und Fax, Küchengeräte oder Spielzeug (Joystik), Bohrmaschinen, Phantasiemaschinen aber auch Stereoanlagen, Föhne, Rasierapparate oder Bügeleisen in einem kleinen, lebendigen bisweilen amüsanten Lustspiel darstellen und dieses an die Stelle des gewöhnlichen Stillebens treten lassen? Die Ansammlung von Objekten bis hin zu modernen Prothesen des menschlichen Körpers, die charakteristisch für das alltägliche Leben der abendländischen Gesellschaften sind, erklärt nicht alles. Die Art, wie diese Objekte behandelt werden, lassen sie als Vektoren metaphysischer und biologischer Fragen erscheinen. Was ist das Lebendige? Warum Maschinen zeichnen, die organische Elemente einverleiben, oder Maschinen zeichnen, die Geschichten oder Dramen erleben? Ist tatsächlich das Lebendige auf die Grenzen beschränkt, die ihm früher die Biologie von Lamarck zuerteilte, weil sie auf dem Unterschied zwischen dem Organischen und dem Anorganischen beruhte? Ist der Mensch in einer Zeit, in der die programmierte Selbstzerstörung von Zellen begriffen wird und in der das Massachusset Institute of Technology die Bedingungen einer Erzeugung zukünftiger, lebendiger und künstlicher Zellen vorbereitet, immer noch so sicher, dass das Mechanische anorganisch, das Anorganische unbewegt, das Unbewegte tod und das Tote außerhalb des Lebens ist? Diese Frage greift die Bilderserie “das Leben der Objekte und andere Geschichten” sowie zahlreiche zitierte Arbeiten ohne weitere Umwege auf. Einerseits tun sie dies nicht ohne Poesie, ja gar mit einer gewissen Zärtlichkeit. Andrerseits sollte man aber auch die kriegerische Stimmung bedenken, die von den Objekten und ihrer Geschichte ausgeht.
Bemerkenswert ist auch die kühne Weiblichkeit dieser Malerei. Den dicken Körper von Bismarck bewohnen, ist nicht die geringste Herausforderung einer solchen Weiblichkeit [1]. Tatsächlich, in einer Welt und in einem Land, in dem die anerkanntesten Maler fast nur noch Männer sind, lernte Corinne Chambard beißend zu werden. Dies gilt besonders für Deutschland, wo die Feinheiten, zumal wenn sie von einer hübschen Französin stammen, langweilen oder schlicht als Coquetterie gelten. Außerdem sind die rekurenten Elemente dieser Malerei weit davon entfernt unweiblich zu sein. Das Kulinarische zum Beispiel, sowie die Werkzeuge des Alltäglichen, von der Küche bis zum Badezimmer, sind an das Heim gebunden. Endlich ist Sexualität nicht das ausschließliche Eigentum der männlichen Maler. So eignet sich die Serie “französischen Liebe” dieses Thema ohne Scham und doch auf weibliche Art und Weise an [3].
Verbergen wir uns aber nicht weiter die evidente politische und historische Dimension. Es ist eine Europäerin mit französischer Herkunft, die zum Beispiel jenen blauen Bismarck einverleibt, der auf einem unwahrscheinlichen Sessel gesetzt wurde, dessen süßliche rosa Farbe (die man auf der Uhr des Bildes “Deutschland” [11] wiederfindet) die Grobheit des von dem Sessel getragenen Körpers kompensiert. Die Serien “französische Liebe” und “I am you” zeigen auch mehrmals Selbstbildnisse einer Französin, die sich etwas typisch Deutsches an-eignet: die Küche, besonders die Würste (im Kontrast zur französischen “Pâtisserie”) und die Geschichte in Form der militärischen Uniformen der Hussarden, der Uhlanen oder der Preußen (mit ihren berühmten Spitzhelmen) deren Kleidung die Malerin angezogen hat [12].
Man bemerke, daß “französische Liebe” auch auf deutsch Fellatio bedeutet. Aber die Verbindung des kulinarischen und des sexuellen Motivs beschränkt sich nicht auf den Titel der Serie. Das Verschlingen der Würste spielt bereits darauf an.
Grundlegend bleibt der Blick auf sich und auf den Nachbarn, das Denken von sich und über die Anderen, das was man ißt und wie man es ißt, die Art wie man lebt, die Art zu Werke zu gehen und schließlich das, was das Werk ausmacht. All diese Elemente werden hier von einem extra-nationalen Standpunkt untersucht. Das ist die Antwort an Georg Baselitz, in dessen Klasse Corinne Chambard drei Jahre lang an der Universität der Künste in Berlin studierte. Was heißt es heutzutage Maler in Europa zu sein? Was heißt es der noch zögerlichen Zukunft Europas in Berlin zur Geburt zu verhelfen? - In dem “Selbstbildniss als Bismarck”, in “Kaiser Jagdwurst” (ein Selbstportrait als Hussard mit einer rosa Wurst, die im Vordergrund liegt und wie ein errigierter Penis inszeniert ist [13]), oder in “französische Liebe” sowie in “I am you” auf diese Fragen antworten, heißt als Französin sich von den “Sachen” oder der Geschichte Deutschlands betroffen fühlen. Nicht aus Exotismus oder vorübergehender Neugier, sondern mit Tiefe und Ernst. Kann die deutsche Geschichte in Europa Gegenstand nur von den Deutschen sein? Ist es nicht genauso schwierig für die französische Seele sich auf den Weg zu machen bis zum Tragen der Uniform des ehemaligen und ewigen Feindes? Kann das (deutsche) Gefühl des beraubt Seins gegenüber solchen Bildern schwerer wiegen als das (französische) Gefühl des Verrats?
Aber vor allem: Ist das die Frage? Durch die Uniform des “Freikorps” von Lützow oder die Uniform des königlich- preußischen Garde-Jäger Bataillon von 1809 [14] zeigt ein kleines Format aus “I am you” bereits ein Teil des Fundaments der deutschen Republik. Die Farben dieser Uniform, die zum Symbol des Widerstands gegen die napoleonische Besatzung wurden, wurden durch das ganze 19. Jahrhunderts von den Partisanen der Republik und schließlich von der Weimarer Republik übernommen, und sie bilden noch heute die Farben der deutschen Flagge (vgl. “Schwarz, Rot, Gold” [15]). Wenn wir Europäer sind, gehört dieser Moment auch einem Maler französischer oder anderer Nationalität. So haben auch viele Europäer ohne französische Herkunft die französische Revolution auf sich genommen. Die “Befreiungskriege” sind Ereignisse einer gemeinsamen Geschichte. Diese einzuverleiben, heißt mit anderen Worten die zur Welt kommende europäische Seele formen. In dieser Malerei erfolgt tatsächlich die Mutation der europäischen Seele - die die Mehrheit noch nicht durchgeführt hat. Die Frage der Souveränität des nationalen Standpunktes ist gestellt. Dabei handelt es sich auch darum, endgültig die Leiden der Vergangenheit zu verdauen. Wollen wir, oder wollen wir nicht Europa?
Laurent Cherlonneix
April 2002